Texte und Quellen

Bericht von H.C. Markuson über seine Arbeit im Lager für die Interallied Commission for the Repatriation of Russian Prisoners

Neun Monate in Deutschland nach dem Waffenstillstand

Ein kurzer Bericht über die Arbeit der Interallierten  Kommission für die Repatriierung Russischer Gefangener und einige Streiflichter zu den Bedingungen im gesamten Deutschen Reich.

von H.C.Markuson

Anmerkung des Herausgebers : Als die Vereinigten Staaten in den Krieg eintraten, war Herr Markuson ein Oberleutnant im 2. Regiment, Illinois National Guards, das in die 182. US-Infanterie eingegliedert wurde. Er erreichte Frankreich mit dem Regiment am 24. Mai 1918. Am 4. Juli, während der amerikanischen Offensive, wurde er an beiden Beinen verwundet.  Er trat am 24. September in der Nähe von Verdun wieder dem Regiment bei und wurde bei einem Einsatz in Bois de Foret erneut verwundet, diesmal an der Schulter.  Nachdem er sich von dieser Wunde erholt hatte, trat er Mitte September wieder seinem Regiment bei.  Anfang  Januar 1919 wurde er der Interallied Commission for the Repatriation of Russian Prisoners zugewiesen, von deren Arbeit  er in diesem Artikel berichtet.

Zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Waffenstillstands hatte Deutschland über eine Million russischer Gefangener in ihren Händen und man wusste nicht, was man mit ihnen machen sollte. Russland hatte keine stabile Regierung, die dafür sorgen konnte, dass ihre gefangenen Soldaten sicher  zurück geführt wurden. Zwischen ihnen und ihrem chaotischen Vaterland lagen die militärischen Linien der Finnen, Polen, Litauer, Ungarn usw. Unter diesen Umständen liess Deutschland einfach die ganze Herde los und sie starteten zusammen mit den freigelassenen Gefangenen anderer Länder in Richtung der französischen Grenze. Dieses Verfahren lag nicht im Interesse der Alliierten Behörden. Deutschland erhielt fortlaufend Befehle, die Russen in den Gefangenenlagern festzuhalten, bis eine alliierte Kommission zur Überwachung der Rückführung im Land eintreffen würde.

Diese Kommission bestand aus militärischen Abteilungen der verschiedenen Alliierten Nationen, darunter eine aus der 132. US-Infanterie, mit der ich mich in Luxemburg befand. Ich wurde für diese Arbeit eingeteilt und Colonel Bullington's Stab als Adjudant zugeteilt.  Unsere Abteilung kam am 11. Januar 1919 in Berlin an.  Bevor wir in die Gefangenenlager gehen würden, sollten wir dort unsere offiziellen Papiere erhalten.  Die Ordnung war nach der Revolution, die der Flucht des Kaisers folgte, gerade in der Stadt wiederhergestellt worden.  Es gab immer noch zahlreiche Beweise für diese Auseinandersetzung.  Des Kaisers Palast und die öffentlichen Gebäude in unmittelbarer Nähe zeigten die Beschädigungen  der Artillerie und des Maschinengewehrfeuers. Viele schöne Säulen und Statuen waren in Stücken.  Die Stadt wurde massiv von Soldaten mit Stahlhelmen bewacht, mit Gürtel voller Granaten.  Gepanzerte Autos patrouillierten durch die Straßen, die ihre Maschinengewehre allen zeigten, die meinten Politik mit Ziegelsteinen machen zu können.

Einige der Straßen waren mit Stacheldraht blockiert. Als wir durch die Straßen gingen, wurden wir zunächst häufig gestoppt und von Soldaten oder Zivilisten verhört. Erst nachdem die Berliner Zeitung einen Artikel über die Kommission und ihre Arbeit veröffentlicht hatte, endete dieses Ärgernis. Die alliierten Regierungen verpflichteten sich einen beträchtlichen Teil der Rationen der Gefangenen zu übernehmen und natürlich ihre Rückführung zu überwachen. So war die Arbeit der Kommission auch indirekt ein Vorteil für das deutsche Volk. So konnten wir nach dem Erscheinen der Zeitungsartikel durch die Stadt gehen, ohne an jedem Häuserblock von einem Bajonett an den Rippen gekitzelt zu werden.

Wir fanden die Lebensmittelpreise sehr hoch in Berlin und in den anderen großen deutschen  Städten, aber es gab einen unbestreitbaren Mangel an Lebensmitteln.

Die Situation kam mir nicht so ernst vor, wie sie in der deutschen Presse geschildert wurde. Eines der grössten Probleme war der Mangel an Seife. Das verursachte der für ihre Leidenschaft für Sauberkeit bekannten deutschen Hausfrau viele Sorgen. Süßigkeiten und Schokolade waren natürlich extrem selten und von sehr schlechter Qualität. Ich sah eine 25-Cent-Tafel amerikanischer Schokolade, die für 60 Mark in Berlin verkauft wurde (ca. 15 US-Dollar in der Vorkriegszeit).  Herrenbekleidung von sehr geringer Güte wurde verkauft für 1.000 Mark (250 $) und Schuhe für 300 Mark (75 $). Sehr viele der gebrauchten Schuhe waren hergestellt aus Stoffoberteilen und Holzsohlen. In den kleineren Städten war die Nahrungsmittelversorgung jedoch besser, aber auf keinen Fall reichlich. Ich habe Eier in Deutschland so günstig gekauft wie sie heute in Chicago gekauft werden können - aber vielleicht ist das ein schlechter Beweis für vernünftige Preise.

Nach dem Erhalt der erforderlichen Unterlagen in Berlin machte sich die Kommission an die Arbeit. Ich wurde zuerst einem Gefangenenlager in der Nähe von Güstrow zugewiesen, einer Stadt mit etwa 20.000 Einwohnern in Nordmecklenburg, etwa 120 Meilen von Berlin. Das Lager befand sich ungefähr drei Meilen von der Stadt inmitten einer wunderschönen landwirtschaftlich geprägten Landschaft. Die Lage war ideal für ein militärisches Gefangenenlager und das Lager selbst war sehr praktisch aufgebaut worden. Es hatte ungefähr eine drei Viertel Quadratmeile in der Fläche und dort waren wohl ursprünglich etwa 40.000 Gefangene untergebracht gewesen. Alle außer den Russen und einigen Rumänen waren schon fort als wir dort ankamen. Vor dem Zusammenbruch der deutschen Militärmaschinerie war das Lager sehr gut geführt worden. Es war mit gut gebauten Baracken und einem Badehaus mit 60 Duschen ausgestattet, mit einer Heizung  für genug heißes Wasser um täglich 500 Männer mit warmen Bädern versorgen zu können. Der Entlausungsapparat im Anschluss des Badehauses entfernte das Ungeziefer aus der Kleidung, während die Besitzer die Duschen genossen. Also waren die Gefangenen gut versorgt, bis auf das umständehalber schlechte Essen und die brutal schwere Disziplin, der sie ausgesetzt waren.  Für die Gefangenen wurden bei den meisten Nationalitäten die grossen Nahrungsmittelprobleme durch Pakete gemildert, die von zu Hause aus durch ihr Rotes Kreuz und andere Hilfsorganisationen an sie geschickt werden konnten.

Die armen Russen waren jedoch lange ohne jegliche Hilfe. Ihre Organisation des Roten Kreuzes, oder was es davon noch gab, hatte alle Hände voll zu tun mit den Vorgängen direkt zu Hause. Folglich war die Moral durch schlechte Ernährung, Langeweile und Hoffnungslosigkeit ihre Moral sehr niedrig und sobald die starke Hand der Autorität sich nach dem Waffenstillstand lockerte, brach ihre Disziplin vollständig  zusammen.

Als wir im Lager ankamen, fanden wir die Dinge in einem jämmerlichen Zustand. Die Gefängniswärter waren praktisch ohne jede Autorität und die Gefangenen weigerten sich zu arbeiten, selbst wenn es um ihre eigene Versorgung oder ihre Unterkunft ging. Brennstoff war knapp. Der einfachste Weg für die Gefangenen an etwas Brennmaterial zu kommen war es, einen Teil der Baracken zu verbrennen. Mit dieser Methode sicherten sie sich einen warmen Platz und mussten dafür aber in den restlichen Gebäuden zusammen rücken. Die daraus natürlich resultierende Überfüllung war die direkte Ursache dafür gewesen, dass es viele Krankheiten und viele Todesfälle gab. Die Arbeiten zum Unterhalt der normalen sanitären Einrichtungen waren zum Stillstand gekommen und der Ort sah aus und roch wie eine riesige Müllkippe.

Dieser Zustand war nicht nur begrenzt auf das Lager in Güstrow. So sah es in allen rund 40 Lagern im ganzen Land aus. Natürlich war unser erster Schritt das Bestreben, das Lager wieder in einen für die menschliche Unterbringung geeigneten Zustand zu versetzen. Dabei waren die deutschen Gefängniswärter nur wenig hilfreich. Sie hatten ihren Offizieren praktisch alle Autorität entzogen und war zu einem desolaten, unsteuerbaren Haufen verkommen, absolut unfähig  die Gefängnisdisziplin aufrechtzuerhalten und absolut nicht bereit  ihre eigene Disziplin zu pflegen. Wenn ihre Offiziere einen Befehl gaben, sie gehorchten ihm oder eben nicht, so wie sie Lust hatten.  Alle Befehle des sogenannten Kommandanten des Lagers bedurften der endgültigen Genehmigung eines Vertreters der Soldaten, bevor sie ausgeführt werden durften. Um alle Verwaltungsvorgänge zu überwachen war permanent  ein Mitglied des Soldatenrats im Büro des Kommandanten stationiert. Das ist zweifellos immer noch so. Die Offiziere durften die Männer nicht bestrafen. Das konnte nur auf Anordnung der eigenen Vertreter der Soldaten erfolgen. Tatsächlich drehten die Soldaten oft den Spiess um, und erledigten solche Angelegenheiten durch Bestrafung ihrer eigenen Offiziere. Ich erinnere mich an einen solchen Fall, in dem ein deutscher Major in Güstrow für drei Tage von seiner eigenen Wache als Disziplinarmaßnahme festgesetzt wurde.  Er war so voreilig gewesen vorzuschlagen, dass die Soldaten bis vier Uhr im Dienst bleiben sollten, statt nur bis drei Uhr nachmittags.

Zu dieser Zeit kamen die amerikanischen Kommissare nach Güstrow und die Lage war in einem unschönen und komplizierten Gewirr. Natürlich hatten wir nicht die nötige Autorität um das Lager zu regieren. Aber wir sollten uns nur um das Wohlergehen der Gefangenen kümmern. Unter diesen Umständen war der einzig praktische Weg um diese Aufgabe umzusetzen, eine gewisse Kontrolle über das Lager zu erlangen. Dieses mit einer unbewaffneten Truppe wie der unseren zu erreichen, wo vorher die bewaffnete Wachtruppe versagt hatte, schien auf den ersten Blick ein sehr ambitioniertes Projekt. Aber es war nicht so unmöglich, wie es zunächst aussah. "Jeder Mann ist ein Sklave seines Magens" und wir waren in der Lage an diesem Punkt ein wenig Einfluss zu nehmen, indem wir unsere zusätzlichen Nahrungsvorräte zurückhielten oder um die normale Ration durch das Austeilen von ein paar Extras aufzubessern.

Hier sind einige Fakten, die zeigen wie das Essen aussah, dass durch die Alliierte Kommission an die Lagerinsassen geliefert wurde: Die deutsche Lagerration bestand aus etwa drei Viertel Pfund schwerem, schwarzen, scheusslich schmeckendem Brot, einer kleinen Menge Tee und etwa zwei Liter wässrigem Eintopf; ein Liter zum Mittag und der andere Abends. Dieser Eintopf wurde fast ausschliesslich aus getrocknetem Gemüse gemacht, vorrangig Karotten. Ein Löffel davon hätte den alten Epicurus (griechischer Philosoph) im Grab rotieren, auferstehen und wieder sterben lassen.

Zwei Wochen nach unserer Ankunft in Güstrow erhielten wir über Dänemark 14 Wagenladungen Lebensmittel aus den alliierten Lagern. Das ermöglichte uns die Gefängnisrationen ein wenig nach oben zu korrigieren. Wir fügten 140 Gramm Fleisch und Fett für jeden Mann pro Tag hinzu, wir gaben Tee und Zucker aus und weiße Kekse.  Dazu konnten wir die Brotration auf etwas über 1 Pfund erhöhen. Zusätzlich zu diesen allgemeinen Rationen versorgten wir die Krankenhauspatienten mit Tee, Kaffee, Kakao, Schokolade, Milch, Fleisch und Fett, Weißbrot, sowie Gemüse- und Obstkonserven deren Mengen sich nach den Anweisungen der Ärzte richtete. Wir haben auch das Krankenhaus eingerichtet mit Medikamenten, chirurgischen Hilfsmitteln und Mullbinden. Letztere ersetzten die Papierverbände, die überall in  ganz Deutschland wegen der Stoffknappheit  verwendet wurden. Basierend auf den Erfahrungen eines Mitarbeiters des dänischen Roten Kreuzes im Lager kochten wir die zusätzlichen Fleischrationen direkt im Eintopf. Er hatte zunächst versucht jedem Mann seine „Eisenrationen“ direkt zu geben, fand aber schnell heraus, dass die meisten von ihnen das Essen in Güstrow verkauften. Sie forderten dann mehr und beschwerten sich, dass sie ihren Anteil nicht erhalten hätten. Mit dem Fleisch und einigen unserer guten Gemüsekonserven oder Spaghetti wurde der Eintopf sehr appetitlich und nahrhaft.

Sobald die zusätzlichen Lebensmittel ankamen, waren wir in der Position das Lager aufzuräumen. Wir organisierten die Gefangenen in besonderen Gruppen und bezahlten sie für ihre Arbeit mit extra Essen und Zigaretten. (Jede regelmäßige Ration eines Gefangenen an Zigaretten waren übrigens drei am Tag.) In kurzer Zeit konnten wir das Lager wieder zu einem geeigneten Ort für die Unterbringung von Menschen machen. Aber wir wurden mit einem anderen Problem konfrontiert. Die Gefangenen erhielten nun weitaus besseres Essen als ihre deutschen Wachen. Das führte zu einer grossen Unzufriedenheit unter den Deutschen und sie begannen damit, die Arbeit der Kommission zu behindern.

Nachdem wir die Ermächtigung zur Ausgabe der gleichen Verpflegung an die deutschen Wachen erhielten, konnten wir damit Abhilfe schaffen; vorausgesetzt die alliierten Offiziere waren zufrieden mit dem Verhalten der Deutschen. Die zusätzlichen Rationen wurden jeweils einzeln pro Woche an die Wachen ausgegeben und sie durften das Essen mit nach Hause nehmen zu ihren Familien. Das Ergebnis war eine deutliche Verbesserung in der Haltung der Wachen. Neun von zehn beachteten uns jetzt und salutierten, eine Aufmerksamkeit die sie ihren eigenen Offizieren nicht mehr zugestanden. Tatsächlich breitete sich die freundliche Stimmung auch ausserhalb des Lagers aus. Als einmal eine Gruppe von uns Amerikanern in einem Auto auf der Strasse anhielt,  kamen sofort mehrere Soldaten die uns freundlich begrüßten. Einer ihrer Unteroffiziere tadelte sie scharf für den freundlichen Umgang mit uns  Schweinehunden, aber die Männer sahen das nicht als Problem und meinten „Die Amerikaner sind nicht so schlecht “.

Vielleicht war dieses Gefühl jedoch nicht nur das Ergebnis unserer Gefangenenlagerpolitik, auch in anderen Teilen von Deutschland fanden wir später, dass die Menschen das Gleiche uns gegenüber empfanden.  Zum Beispiel als wir später nach Flensburg nahe der dänischen Grenze gingen, um dort ein Gefangenenlager zu organisieren. Viele der deutschen Seeleute dort deuteten unsere Nationalität falsch und schlugen vor: "Lasst uns die dreckigen Engländer schikanieren!“. Sie erwiesen sich aber als sehr friedlich, nachdem sie bemerkt hatten, dass wir Amerikaner waren.

Aber zurück zu unseren Gefangenen. Die 14 Autos mit Lebensmitteln, die ich zuvor erwähnt hatte, bewirkten, dass das Innenleben der Gefangenen nun zufriedenstellend versorgt war. Aber die Aussenbereiche liessen immer noch zu wünschen übrig. Ihre Kleidung  war alt, schmutzig und zerlumpt. Hauptsächlich aus Einzelstücken zusammengesetzt, die ihnen die Anderen sofort beim Waffenstillstand freigelassenen Gefangenen gespendet hatten. Die meisten von ihnen hatten nur Holzschuhe. Sämtliche Unterwäsche war so viele Monate als Überwäsche genutzt worden, dass sie insgesamt weggeworfen werden musste. Auch ein Kriegsgefangener kann kein Kleidungsstück tragen, wenn der Prozentsatz der Löcher im Stoff weit über 100 Prozent geht.

Im April erhielten wir eine Lieferung von Kleidung,  Schuhen, Socken und Pyjamas. Aber es gab keine Unterwäsche in den alliierten Depots, so hatten wir uns stattdessen die Pyjamas gesichert. Diese Pyjamas wären auch zu bunt gewesen um darin im Lager zu schlafen, sie waren herrlich gestreift oder kariert in rosa, blau und gelb Designs. Das schien in besonderem Masse die Fantasie der Russen anzuregen. Nach Ausgabe der Pyjamas kamen viele zurück um sich ein anderes Muster nach ihrem jeweiligen Geschmack auszusuchen. Wir waren ein wenig überrascht, dass sie so viel Interesse an dem Muster ihrer Unterwäsche hatten. Das Rätsel löste sich ein paar Tage später, als ich an einem Ostersonntag Güstrow besuchte. Die Strassen waren gefüllt mit unseren russischen Freunden, gekleidet in ein auffälliges Oster-Ornat, bestehend aus Holzschuhen, einer Pelzmütze und einem Pyjama!

Das einfache Gemüt der Russen war jedoch oft eher auffregend als amüsant. Es machte die Aufgabe ihnen die Dinge zu erklären extrem schwierig. Infolgedessen suchten sie immer nach Gründen sich zu beschweren und schickten Delegationen, um uns diese Beschwerden vorzustellen. Sie hatten eine Form der repräsentativen Regierung untereinander eingerichtet durch die die meisten ihrer Beschwerden an uns herangetragen wurden. Jede Baracke wählte einen Vertreter in den Lager-Rat, der seinerseits ein Exekutivkomitee wählte um die inneren Angelegenheiten des Lagers zu verwalten. Vor diesem Ausschuss wurden unter anderem die Beschwerden angehört und entschieden. Viele davon betrafen Streitigkeiten, die sie dann zur Schlichtung an uns heranbrachten.  Zum Beispiel hatten sich viele von den Gefangenen angewöhnt, kleinere Gegenstände in ihren Besitz zu bringen, ohne die Formalität des Bezahlens zu durchlaufen. Die Geschickteren unter ihnen kamen aus der Stadt Güstrow schwer beladen  mit Schmuggelware nach Hause.  Die deutschen Wachen durchsuchten sie natürlich und nahmen die gestohlenen Gegenstände weg. Dies war einer von den vielen Beschwerden, die sie uns vorlegten. Sie hielten uns vor, dass die Deutschen nach dem Waffenstillstand keine Autorität mehr über sie hätten. Sie zogen daraus die naive Schlussfolgerung, dass ihre Rechte verletzt wurden, wenn die Deutschen ihr eigenes Eigentum zurücknahmen! Das ist ein guter Bolschewismus für dich - Was deins ist, ist auch meines, aber was meins ist bleibt meins.

Neben den Delegationen der regulären Kommitees wurden noch zahlreiche Sonderausschüsse organisiert, vorrangig um zu fragen, wie und wann sie nach Hause geschickt würden. Zuerst gab es eine Petition aller Männer über 45 Jahre im Lager; dann eine aller Männer aus Sibirien; ein anderer von allen Kosaken; ein anderer vielleicht von allen verheirateten Männern. Ich erinnere mich nicht, dass sie eine Petition von allen hübschesten Männern im Lager präsentierten, aber wenn, dann wäre dies die einzige Kombination, die sie übersehen haben.

Außerdem wurden wir alle drei Wochen zur Teilnahme an einem Treffen des gesamten Lagers aufgefordert und mussten uns der Befragung durch einen Dolmetscher unterziehen, warum sie nicht sofort und wann sie nach Hause geschickt würden. Natürlich war es sehr schwierig, ihnen die äusseren Umstände und Bedingungen ausreichend klarzumachen, um sie vorerst zu beruhigen.

Der grösste Teil dieses Heimwehs und dieser Unzufriedenheit war ja natürlich und unvermeidlich. Aber einiges davon war auch die Arbeit von Agitatoren, die sich bemühten, die Gefangenen zur Revolte zu bringen und selbstständig zurück zu gehen, versorgt auf ihrem Weg durch Plünderungen. Zweifellos um sich am Ziel den bolschewistischen Kräften anzuschließen. In einem anderen Lager versuchten sie tatsächlich solch einen Ausbruch und wurden nur gestoppt, indem man Maschinengewehre auf sie richtete und etwa fünfzig Männer tötete. Nach diesem Vorfall wurden wir Amerikaner in Güstrow von den Deutschen mit Waffen und Munition ausgestattet, damit wir uns im Falle eines ähnlichen Ausbruchs in unserem Lager verteidigen konnten.

Im Allgemeinen erwiesen sich die Russen jedoch als gute Kameraden und waren wirklich dankbar für die Dinge die wir für ihre Versorgung taten. Ein ziemlich lustiger Vorfall verdeutlicht dies. Durch die Zusammenarbeit mit der Y. M. C. A. (Young Men’s Christian Association) hatten wir uns einen Filmprojektor und eine Reihe von Filmen gesichert, darunter einen Brüller mit Charlie Chaplin. Als der Film begann konnten sie sich vor lautem Lachen kaum zurückhalten. Ihre offiziellen Vertreter befürchteten mit dem lauten Lachen über unseren Film könnten sie uns beleidigen. Erst nachdem unser Dolmetscher ihnen erklärt hatte, dass der Film extra gemacht wurde um zu lachen, liessen sie dem Gelächter freien Lauf und hoben damit fast das Dach an.
Mit dem Y. M. C. A. haben wir auch versucht Spiele im Freien einzuführen, wie Baseball, Volleyball, Fußball usw., aber wir waren nicht in der Lage sie dafür zu begeistern. Die armen Kerle hatten nie gelernt zu spielen. Das sei nur für die reichen Leute. Es gab keine Möglichkeit für einen armen Mann seine Zeit dafür zu verschwenden.  Sie interessierten sich jedoch für Musik und einige von ihnen waren sehr begabte Künstler. Das Y. M. C. A. versorgte sie mit Instrumenten und ihre Orchestern und Chöre gaben viele unterhaltsame Konzerte.

Etwa in der ersten Juniwoche wurde es möglich die Menschen aus Zentralrussland über Polen zu repatriieren. Als dies angekündigt wurde, behauptete jeder Mann im Lager in Zentralrussland zu leben, obwohl er eine Woche zuvor noch ein Mitglied der sibirischen Delegation gewesen war. Allerdings konnten wir schließlich mit Hilfe des russischen Exekutivkomitees 2.000 Männer auswählen, die aus dem für uns offenen Bezirk kamen. Ich wurde beauftragt, sie mit dem 42 Waggon langen Zug so nah wie möglich an ihre Heimat zu bringen wie wir das konnten. Das war ein paar Meilen hinter Kovnow (der heutige Hauptstadt Litauens). Als wir einen Punkt erreichten, der so nah an der Kampfzone lag wie es gefahrlos möglich war, wurden die Männer freigelassen. Wir versorgten jeden mit Essen für zwei Wochen. Sie machten sich zu Fuss auf den Weg nach Hause, und ich frage mich oft, wie viele von ihnen dort jemals angekommen sind und was sie dort vorfanden, falls ihnen das wirklich gelang.

Diese 2.000 Männer und vielleicht etwa tausend weitere, die in kleinen Gruppen loszogen, waren die einzigen Gefangenen die aus unserem Lager zurückgeführt wurden bis zu dem Zeitpunkt als Deutschland endgültig den Frieden unterzeichnete. Und damit Bedingungen schuf, die unsere Arbeit beendeten.  Die Bedingungen legten fest, dass keine ausländischen Truppen am Unterhalt der deutschen Gefangenenlager mehr beteiligt waren.

Ende Juni, als die Friedensbedingungen erstmals veröffentlicht wurden und sie noch nicht unterschrieben waren, wurden die Deutschen sehr wütend auf alle Alliierten, einschließlich Amerika. Und wir wurden davor gewarnt  in den Städten herumzugehen bei Dunkelheit.  Da die Zeitungen nun über die strengen Bedingungen berichteten und in hitzigen Leitartikeln gegen sie protestierten, war es kein Wunder, dass die Bürger aufgeregt und wütend wurden. Als jedoch die erste Empörung nachließ, und besonders nachdem der Frieden tatsächlich unterzeichnet war, schien das Land zu dem Schluss zu kommen, dass die Bedingungen doch nicht so unerträglich waren.

Außer während solcher Zeiten von Stress, fanden wir die Deutschen im ganzen recht freundlich, vor allem in den Städten in der Nähe der Gefangenenlager, wo die Menschen unsere Leute kannten und ihre Arbeit schätzten. Die offiziellen Beamten arbeiteten gut mit uns zusammen uns statteten uns auch mit einem Auto und einem Chauffeur aus. Obwohl wir uns mit unseren eigenen Reifen und unserem Benzin versorgen mussten, wegen der extremen Knappheit dieser beiden Waren in Deutschland. Der Anblick von amerikanischen Offizieren, die in einem Militärauto mit dem heiligen Doppeladler der kaiserlichen Deutschen Armee durch Städte und das Land sausten, war sicher ungewohnt, besonders da wir auch noch einen ex-kaiserlichen  Chauffeur hatten.  Einige  der Unversöhnlichen gingen sogar so weit auf uns zu spucken und murmelten ihr Lieblingskompliment "Schweine-Hunde",  aber solche Fälle waren selten. Übrigens würde wohl kein Versicherungsunternehmen das Risiko von Reifendiebstahl in Deutschland übernehmen. Ein Fahrzeug das man zehn Minuten ohne Wache lässt würde in jeder Stadt mit Sicherheit seiner Reifen und ausserdem eines jeden Stücks Polsterleder beraubt. Wenn man es sogar über Nacht parkt, würde der Besitzer am Morgen nur noch mit viel Glück eine Spur des Nummernschildes finden.

Im Gegensatz zu dem was Sie vielleicht erwarten, so fanden wir in den deutschen Offizieren gründliche und sehr höfliche Herren. Sie schienen darauf bedacht zu sein, alles in ihrer Kraft stehende zu tun, um uns unsere Arbeit einfach und angenehm zu machen - dies auch trotz der Tatsache, dass wir in ihren Augen sehr eigenartige Offiziere waren. Wann immer wir uns mit den Soldaten aus dem Lager für gutes Ballspiel trafen, so waren die Gesichter dieser deutschen Offiziere eine Studie der völligen Verwirrung. Und wie sie sahen das unser Colonel beim Reifenwechsel half, da hätte ich fast befürchtet, dass sich der Schock für manche von ihnen als tödlich erweisen könnte.

Trotz unserer offenbar seltsamen Art waren sie alle zum Bahnhof gekommen, um uns zu verabschieden, als wir Güstrow am Ende unserer Arbeit Ende August verließen. Auch die Russen bedauerten, dass wir gingen und eine Delegation kam zum Zug herunter, um uns gute Wünsche in mehreren langen Reden darzubieten, die nur durch die Abfahrt des Zuges unterbrochen wurden.

Bei unserer Abreise wurde die Arbeit die Gefangenen zu betreuen und sie bei Gelegenheit zu repatriieren wieder an die Deutschen übergeben. Sie waren nun auch verantwortlich für alle unsere Geschäfte. Ich habe einige Zeit in Köln, Brüssel, Lüttich verbracht und in Paris, bevor ich von Brest in die Vereinigten Staaten reiste, wo ich am elften des letzten Oktober endlich außer Dienst gestellt wurde.

Quelle: Western Electric News, Dezember 1919

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