1918 bis 1921 - Kriegsende

Der Weg in die Heimat

Bereits mit dem im März 1918 zwischen dem deutschen Reich und dem von den Bolschewiki regierten Russland geschlossenen Friedensvertrag von Brest-Litowsk hätten zumindest für die russischen Gefangenen im Lager Bockhorst Veränderungen eintreten sollen. Eigentlich war in der Haager Landkriegsordnung festgelegt worden, dass Kriegsgefangene nach Friedensschluss binnen kürzester Frist in ihre Heimat entlassen werden mussten. Der Vertrag sah dafür zunächst einen Austausch der Gefangenen zwischen Russland und Deutschland nach dem Prinzip Kopf um Kopf, Dienstgrad um Dienstgrad vor. Allerdings standen 1,4 Millionen russischen Gefangenen in Deutschland nur etwa 180.000 deutsche Soldaten in Russland gegenüber. Das Deutsche Reich benötigte die russischen Gefangenen weiter dringend als Arbeitskraft und war daher kaum am Vorankommen des Gefangenenaustausches interessiert.

Faktisch änderte sich also im Lager bis zum allgemeinen Waffenstillstand im November 1918 nur wenig. Die meisten russischen Gefangenen verblieben an ihren Arbeitsstellen oder lebten direkt im Lager auf Abruf. Ab Juli 1918 wurde lediglich eine bessere Behandlung der im Arbeitseinsatz befindlichen Gefangenen angeordnet. So durften sie nicht mehr Abends eingeschlossen werden und sie erhielten auch das Recht auf mehr Bewegungsfreiheit in der betreffenden Ortschaft. Auch direkter körperlicher Zwang bei Arbeitsverweigerung sollte durch die Wachmannschaften nicht mehr ausgeübt werden. Offensichtlich hatte ein Teil der russischen Gefangenen selbst auch nur ein geringes Interesse bei guten Bedingungen an ihrem Arbeitsort in die von Revolutionswirren erschütterte Heimat zurückzukehren. So wurden von der russischen Kanzlei im Lager im Oktober 1918 noch 38.722 russische Gefangene verwaltet.

Die übrigen 28.621 Gefangenen gehörten anderen Nationen an. Für diese änderte sich das Leben erst mit dem endgültigen Waffenstillstandsvertrag am 11. November 1918. Der Tagebuchbericht von Adrien Larousserie beschreibt das offensichtlich nicht besonders planvolle Vorgehen der zuständigen Stellen. Deutschland befand sich ja zu dieser Zeit selber im Umbruch. Die Arbeit in den Aussenlagern wurde nach und nach eingestellt und die Gefangenen zurück ins Stammlager transportiert. Hier gab es nun mehr Freiheiten, so durfte man das Lager mit einem Berechtigungsschein für einen Spaziergang in der Stadt verlassen. Auch einige ausländische Offiziere der westlichen Armeen kamen nun ins Lager, um den Abtransport der Gefangenen ihrer jeweiligen Nationen zu organisieren. Dieser begann um die Weihnachtstage 1918. Die Soldaten aus Frankreich und Grossbritannien mit ihren Verbündeten kehrten nicht auf direktem Wege in die Heimat zurück. Sie wurden zunächst per Schiff von Warnemünde oder Stettin nach Dänemark oder  Schweden gebracht und dann von dort nach Cherbourg oder Kingston upon Hull. Später gab es auch direkte Fahrten von Warnemünde. Aus einem britischen Postkartentext geht hervor, dass um die Jahreswende 1918/19 über 38.000 Gefangene (darunter 1.700 Briten) direkt im Lager anwesend waren und auf ihre Rückführung warteten. Auf der deutschen Seite war offensichtlich im Zuge der revolutionären Ereignisse in Deutschland die Kontrolle der Offiziere über ihre Soldaten weitgehend verloren gegangen. Nach dem Bericht des amerikanischen Offiziers Lt. H.C.Markuson musste jeder Befehl der Verwaltung und des Kommandanten durch den Soldatenrat genehmigt werden. Markuson war am 17. Februar 1919 als Adjudant von Lt. Col. John J. Bullington mit einer Gruppen von 24 Amerikanern im Auftrag der Interallied Commission for Repatriation of Russian Prisoners of War (Interalliierte Kommission für die Repatriierung Russischer Gefangener) nach Bockhorst gekommen. Ihre Hauptaufgabe war die Organisation der Rückführung auch der russischen Gefangenen in ihre Heimat. Zu dieser Gruppe gehört auch noch Lt. A.W. Hubbard als Medical Officer. Auf deutscher Seite fungierte ein Hauptmann von Kachelwein (?) als Kommandant. Zu dieser Zeit waren die russischen Soldaten zusammen mit einigen Rumänen die letzten im Lager verbliebenen Gefangenen, die Rückführung der übrigen Gefangenen war scheinbar relativ zügig realisiert worden. Zahlreiche russische Gefangene befanden sich aber auch nach wie vor im Arbeitseinsatz in den Aussenkommandos. In einem Bericht an den Präsidenten der Kommission vom März 1919 wird die Zahl der im Lager lebenden Gefangenen mit 3945 angegeben, zeitgleich waren noch 12.000 Gefangene des Lagers in Arbeitskommandos ausserhalb tätig. Im Lager herrschte, wie im übrigen Deutschland auch, akuter Mangel an Nahrungsmitteln, Bekleidung und vor allem auch Heizmaterial. Die Gefangenen hatten damit begonnen, einzelne Holzbaracken abzureissen und als Brennmaterial zu nutzen. Wegen der beengten Lebensverhältnisse war der Gesundheitszustand schlecht und Infektionskrankheiten grassierten. Die Interalliierte Kommission hatte auch die Aufgabe, die Lebensumstände der verbliebenen Gefangenen bis zum Zeitpunkt ihrer Rückführung zu verbessern. So wurde das Lager aus den alliierten Depots in Dänemark mit Lebensmitteln, Kleidung und letztlich auch Brennmaterial versorgt. (Details dazu in dem ausführlichen Bericht von H.C. Markuson)

Fotografien aus dieser Zeit:

Trotzdem hatte auch die Interalliierte Kommission grosse Probleme die Gefangenen nach Russland zu repatriieren. Weite Landstriche zwischen Deutschland und den Heimatorten der Gefangenen waren Zonen des polnisch-sowjetischen Krieges oder russisches Bürgerkriegsgebiet. Vor allem die polnische Armee-Führung hatte kein Interesse daran, ihre militärischen Gegner mit aus Deutschland zurückkehrenden Soldaten zu verstärken. Aus dem Lager in Güstrow konnte die Kommission lediglich Anfang Juni 1919 einen einzigen, grösseren Transport mit 2.000 Gefangenen aus Zentralrussland auf den Weg bringen. Der Weg des Zuges führte durch das zu dieser Zeit zwar schon unabhängige, aber noch unter deutscher Kontrolle stehende Litauen. Über die Zwischenstationen Preussisch-Holland, Königsberg, Insterburg und Kowno wurde der Zug nach Koschedary geleitet. Unweit von Koschedary verlief die Frontlinie hinter der die spätere litauische Hauptstadt Wilna lag. Sie war noch unter Kontrolle der Bolschewiki. Ab Koschedary gingen die Gefangenen zu Fuss in Richtung der bolschewistischen Linien. Dort wurden sie häufig vor die Wahl gestellt, sich umgehend den bolschewistischen Truppen anzuschliessen oder sofort getötet und ausgeraubt zu werden. Zu den Vorgängen dort liegen keine verlässlichen Zahlen vor.

1917 - Koschedary - Bahnhof

Koschedary - Bahnhof, 1917

Von dem Güstrower Transport nach Koschedary finden sich im Tönse-Nachlass einige Fotos der Gefangenen auf dem dortigen Bahnhof:

  • koschedary01schematischer Ueberblick der Repatriierungsroute russischer Kriegsgefangener im Juni 1919
  • koschedary02russische Kriegsgefangene in Koschedary Juni 1919
  • koschedary03russische Kriegsgefangene in Koschedary Juni 1919
  • koschedary04russische Kriegsgefangene in Koschedary Juni 1919

Neben diesen 2.000 Gefangenen wurden unter der Koordination der Kommission lediglich noch etwa 1.000 weitere Soldaten in kleineren Gruppen ostwärts auf die Reise geschickt. Da auch immer wieder Gruppen von Gefangenen aus anderen Lagern nach Güstrow verlegt wurden, veränderte sich die Lage vor Ort nur wenig. Im August 1919 waren 10.238 Russen in Arbeitskommandos im Einsatz, 1.638 lebten direkt im Lager und 218 befanden sich aus Krankheitsgründen im Lazarett. (Eine Übersicht der regelmässigen Meldungen aus dem Lager Bockhorst an das Hauptquartier der Kommission findet sich HIER). Mit dem Inkrafttreten der Bedingungen des Versailler Friedensvertrages endete die Mission der Interalliierten Kommission. Ende August 1919 verliessen die amerikanischen Offiziere das Lager in Bockhorst und überliessen den Weiterbetrieb wieder vollständig den deutschen Behörden. Die Volkszählung für Mecklenburg vom Oktober 1919 erfasst direkt im Lager 918 Gefangene. Die 453 auf dem Lagergelände untergebrachten deutschen Soldaten gehörten zu 1.Kompanie sowie zur Wach-Kompanie des Landsturm-Infanterie-Ersatz-Battaillon aus Seligenstadt und zu drei Kompanien des Reichswehr Infanterie Regiments 17. Unterlagen aus dem folgenden Jahr  scheinen verloren, verlässliche Zahlen für das Lager Bockhorst gibt es erst im Dezember 1920. Zu diesem Zeitpunkt waren 11.094 Gefangene in Arbeitskommandos tätig, 2.957 lebten im Lager selbst und 110 waren krank im Lazarett. Es war also nicht gelungen, noch mehr Menschen in das vom Bürgerkrieg zerrüttete Russland zurückzuführen. Der deutschen Landwirtschaft in Mecklenburg standen also weiterhin billige Arbeitskräfte zur Verfügung. Das Lager wurde in diesem Zeitraum in erster Linie durch die Russische Kanzlei und das deutsche Militär verwaltet. Die endgültige Auflösung des Kriegsgefangenenlagers erfolgte zum 31. Mai 1921. Die zu diesem Zeitpunkt noch im Lager verbliebenen russischen Staats- und Militärangehörigen, die auf einen Transport in die Heimat schriftlich verzichtet hatten, wurden ins Lager Kassel-Niederzwehren überstellt. Aber auch das Gelände in Bockhorst wurde weiter genutzt.

Quellen:

  1. Inter Allied Commission for the Repatriation of Russian Prisoners of War, Official Papers, 1919
  2. Bundesarchiv, Akten des Reichskommissars für Zivilgefangene und Flüchtlinge, R 1501118403 Band 2-01 1920-21
  3. Volkszählung Mecklenburg 1919

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